Alles begann auf einem Flohmarkt. Kram-, Bratwurst- und Bierstände drängten sich auf dem sonntäglich verwaisten Parkplatz eines großen Baumarktes draußen vor der Stadt. Ich bin süchtig nach Flohmärkten, ich weiß nicht, woher ich das habe. Weder meinen Eltern noch meinen Geschwistern würde etwas in die Wohnungen kommen, das vorher im Besitz anderer Menschen gewesen ist. Ihre Dinge sind kühl, ohne Geschichte. Ihre Wohnungen licht und leer, sie selbst entsprechend freundlich und distanziert.
Bei mir hingegen herrscht Chaos. Die Zimmer ähneln Schmugglergrotten mit Plakaten an Wänden und Decke. Bücher überall, Krimskrams, ein überbordender Plattenschrank, die Schubladen verstopft mit Kartons und Schätzen aus Jugendtagen. Die Staubfänger sind Legion. Meine Wohnung ähnelt dem senil gewordenen Gedächtnis eines langen Lebens. Ich bin 65 Jahre alt.
Ein Flohmarkt also, an einem warmen Maitag mit bestem Trödelwetter, Sonne und sanfter Wind. Langsam schreitend nahm ich die Parade der Stände ab. Dieses Schreiten ist eine ganz besondere Art zu gehen: die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ein konzentriertes Schlendern. Kaum anstrengend, ich kann das stundenlang, ohne zu ermüden. Dazu gehört eine besondere Art zu schauen: ohne Erwartung, aber wach. Konzentriert, aber nicht fokussiert. Hat man diesen schwierigen Schwebezustand erreicht, fließen die meisten Dinge wie unsichtbar an einem vorbei (Videospiele und Kaffeekannen, Metallschilder und Kristallglasbecher, Batikröcke und Plattenspieler).
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Einige Dinge jedoch, sehr wenige, manchmal kein einziges an einem ganzen langen Vormittag, springen aus dem Fließen heraus plötzlich ins Auge, wie man sagt. Wie der einzige scharfe Gegenstand auf einem verschwommenen Photo oder die einzige bekannte Stimme in einem Chor plappernder Menschen. Das sind die Dinge, auf die ich aus bin. Sie schlagen eine Saite an in mir, als würden sie lautlos rufen aus dem Dunkel, und irgendetwas in der Nähe meines Herzens, dort wo es hell ist, würde ebenso lautlos antworten. Dann muss ich sie haben.
An diesem Tag im Mai war es morgens um halb zehn eine Schallplatte gewesen, ein milchig weißes Cover mit einem gestempelten Aufdruck. Auf der Platte ist die dumpfe, eckige Aufzeichnung eines Konzertes mit Gitarren, schnarrender Elektronik und missmutigem Gesang zu hören. Die Musik sagt mir nichts, aber die Platte strahlt eigentümlich in ihrem schmutzigen Weiß und dem Durchdruck des Plattenrunds auf der Rückseite.
Um halb eins, die Platte unter dem Arm, wollte ich es schon aufgeben. Es wurde zu warm, meine Konzentration begann zu rucken, wo sie hätte schweben müssen. Ich beschloss, heimzugehen. Da passierte es: wieder dieser kribbelnde, warme Schlag, als mein Blick auf eine Umhängetasche fiel. Auf die Vorderseite sind verwischte Farbstreifen gedruckt. Die Tasche der Firma berlinbag ist aus roten und schwarzen Stücken LKW-Plane zusammengesetzt. Der Umhängeriemen ist aus Auto-Anschnallgurten gefertigt. Die Tasche lag inmitten eines Plunderhaufens aus Regenschirmen, Schals, Westen, billigen Taschenbüchern und allerlei Artikeln, die mit der Bahn zu tun hatten: Schildern, Fahrplänen, einer Schaffnermütze, kleinen Plastikmodellen von Loks und Doppelstock-Waggons. Ich bezahlte die Tasche mit einer Handvoll Münzen und trug sie unter dem Arm nach Hause, nicht nach Art der Jugend mit dem Umhängeriemen quer über der Brust.
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Daheim, unter der monotonen Musik der Schallplatte („It’s a suicide or two“ schien der Sänger gerade zu intonieren, durch die Zähne gesungen), öffnete ich die Tasche und fand etwas Sand, eine Stoffrose, einen Kugelschreiber mit geriffeltem Kopf, eine selbstgebrannte CD in einer dünnen Plastikhülle, eine Kamera-Chipkarte, acht Polaroids und zwei Notizbücher in DIN A5, eins rot, das andere schwarz, gefüllt mit Text in einer starken, runden Schrift. Zwischen die Seiten waren einzelne Seiten eines gänzlich anderen Papiers gesteckt: farbiger Karton, ebenfalls DIN A5, von hoher Qualität. Darüber wälzt sich dicht gedrängter Text in einer krakeligen Handschrift, die sich deutlich von der starken, geschwungenen Schreibweise in den Notizbüchern unterscheidet. Es sind kurze Erzählungen, allesamt surreal und ohne Zusammenhang mit dem Manuskript, dazu strotzend von teils abstrusen Rechtschreibfehlern.
Ich las den ganzen Abend, der Plattenarm kehrte schon bald wieder in die Ruhestellung zurück, und das Voltairsche Kabarett schwieg. Im Dunkel meines Zimmers wuchs eine kreisende Kirmes als Schemen in der Luft, und ich verstand, dass es gar nicht die Tasche gewesen war, die mich auf dem Flohmarkt gerufen hatte.
Der Roman trägt keinen Titel, es gibt keinen Hinweis auf den Autor. Beide Orte mit dem Namen Burgdorf, die es in Deutschland gibt, habe ich besucht. Einer liegt bei Hannover, einer als Teil der Samtgemeinde Baddeckenstedt bei Salzgitter. Zudem gibt es noch ein 06295 Burgsdorf (Ortsteil von Eisleben, 200 Einwohner) und zehn Burkersdorfs.
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In einer seltsamen, manchmal abenteuerlichen Rundreise habe ich sie alle im vergangenen Winter abgeklappert. Keiner der Orte hatte gleichzeitig eine Burg auf einem Hügel, eine Nachbarstadt mit dem Namen Wolfhausen (keine einzige Stadt dieses Namens im ganzen Land) und eine jährliche Kirmes. Ein Wolfenhausen trieb ich im Taunus auf, ein Örtchen mit Fachwerk und 60er-Jahre-Villen, erreichbar über schmale Bergstraßen durch lichtgesprenkelte, urteutonische Wälder. Am Ortseingang ein geschnitztes Schild („Willkommen in Wolfenhausen!“), Obstgärten (Äpfel, Pflaumen) und Schafwiesen. Ein schmuckes Bürgerhaus in blau und gelb, wie eine kleine Trutzburg auf dem Dorfhügel, immerhin. Eine Bekanntschaft am Geldautomaten der Volks- und Raiffeisen-Bank, eine weibliche Bekanntschaft, die weite Kreise schlug in meinem Leben, wenigstens soviel will ich verraten. Ansonsten nur die Gewissheit: Burgdorf muss (auch wenn das einige der werten Leser sicherlich missmutig stimmen wird) eine Fiktion sein. Mir schien, nach Wochen im Auto, auf leeren Bahnhöfen und in altgewordenen Dorfpensionen mit trockenen Brötchen zum Frühstück und toten Fliegen in den Zimmerecken: Die einzige Möglichkeit, den Text der unbekannten Autorin1 wieder zurückzugeben, sei, ihn zu veröffentlichen.
Sollte also eine von Ihnen, liebe Leserinnen, diejenige sein, nehmen Sie Kontakt auf. Ich bin kein gieriger Mensch, ich verwalte die Einnahmen, die diese Internetseite bringt, auf einem Sparbuch für Sie. Auch den Text habe ich mehr oder weniger so gelassen, wie er war, bis hin zur manchmal (mit Verlaub) recht eigenwilligen Gestaltung der Absätze und Zeilenumbrüche, die dann eher Gedichten ähneln oder graphischer Poesie. Hier und da habe ich einige Rechtschreibfehler ausgemerzt, und an wenigen Stellen, die ich jeweils kenntlich gemacht habe, spürbar in den Text eingegriffen – stets mit der Angabe hoffentlich nachvollziehbarer Gründe. Ich hoffe, den Leser in seinem Lesefluss damit nicht allzu sehr zu behindern.
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CD, Chipkarte und Polaroids bereiten mir hingegen Kopfzerbrechen. Auf der CD befinden sich acht Spuren mit Klängen und Geräuschen, die mir noch weniger sagen als die Aufnahmen auf der milchig weißen Schallplatte. Auf der Chipkarte sind fotografisch arg minderwertige Bilder gespeichert: oft unscharfe oder verwackelte Schnappschüsse von einer billigen Digitalkamera, wie es scheint. Allerdings sind sie alle schwarz-weiß, müssen also am Computer nachbearbeitet worden sein.
Innen in die CD-Hülle war ein schief ausgeschnittener Zettel geklebt, auf dem handschriftliche Angaben zu acht Kunstwerken notiert sind. Fotos dieser Kunstwerke oder auch nur Hinweise auf sie sind auf der CD aber nicht enthalten. Die Polaroids schließlich sind mir ein Rätsel.
Nur auf den ersten Blick hat das alles nichts mit dem Roman zu tun. Doch je mehr ich grübelte, desto mehr mögliche Zusammenhänge eröffneten sich mir. Ich habe das Material also beigefügt, habe Klänge, Erzählungen, Polaroids und Kunstwerk-Angaben einander zugeordnet (acht und acht und acht und acht, kann das ein Zufall sein?) und die Schnappschüsse im Text verlinkt, dort, wo ich Bezüge zu sehen glaube. Ich hoffe sehr, mit diesem Entschluss keinerlei Indiskretion oder Dummheit begangen zu haben.
Mein entfernter Freund Edi, der sich mit Computern und ihrer Geheimsprache voller Klammern und Anführungszeichen auskennt, hat mir dabei geholfen, all das auf diesen Internetseiten darzustellen. Er ist ein etwas seltsamer Mensch, das gibt er selbst gern zu. Tatsächlich stammen diese Aussagen hier von ihm selbst, er bestand darauf: Er sei ein Träumer, ein Freund von wirren Rätseln und digitalen Geheimnissen, ein Perlentaucher im Datenriff, ein Trickser und Da-Vinci-Source-Code-Sucher, der aber viel besser aussieht als Tom Hanks, was immer er damit meint. Er ist jedenfalls mit einem Sarkasmus und einem Wortschatz ausgestattet, der es mir höflichem Ritter alter Schule nicht immer leicht macht, mit ihm auszukommen. Aber wie es ja so schön heißt: Gegensätze ziehen sich an...
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EDI MEINT DAMIT:
I SEE YOU IN THE SEITENQUELLTEXT!
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Doch zurück zur Tasche und ihrem Inhalt. Was mir weitere unlösbare Rätsel aufgibt, ist jene Vielzahl lateinischer Namen, die wie willkürlich in den Notizbüchern verstreut sind, an den Rand oder quer in den Text geschrieben mit silbernem Lackstift, großspurig und mit einem wilden, seltsam ungelenken Schwung in der Schrift. Meer der Stille, Sumpf der Fäulnis – auch die Übersetzungen brachten mich nicht weiter. Hat schon vor mir jemand den Text meiner unbekannten Autorin gefunden? Sind jene Namen eine Form von Kommentar? Eine Kritik? Eine Interpretation? Ich habe sie nach langem Zögern übernommen – und sei es bloß aus Respekt vor jenem hypothetischen ersten Entdecker dieses Textes. Vielleicht wissen Sie, geschätzter Leser, ja etwas damit anzufangen.
Und Ihnen, verehrte unbekannte Autorin, würde ich sogar die milchig weiße Schallplatte schenken, die dumpfen Töne des Voltairschen Kaberetts, wenn Sie Freude daran hätten und sich bei mir meldeten, um Licht in diese äußerlich so unscheinbare Sammlung aus Worten, Bildern und Tönen zu werfen. Das würde ich wirklich tun, auch wenn ich sonst nie Dinge verschenke, die mich auf Flohmärkten gerufen haben. Ich sehe dieser möglichen Premiere mit einer gewissen kindlichen Aufregung entgegen.
Alles fließt und alles springt, so schreiben Sie. Ich hoffe, das eine oder das andere trägt uns eines Tages zueinander.
Mit Hochachtung und voller Erwartung
Sebastian Pantel
im August 2012
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Vorwort // Der Herausgeber
Ich weiß sehr wohl, dass es einen Unterschied gibt zwischen Erzähler und Autor, und dass es also deshalb nicht gesagt ist, dass der Autor des Manuskripts wirklich eine Frau ist. Aber erstens ist die Antwort auf die Frage nach dem Erzähler bei diesem Text sowieso etwas verworren (Sie werden sehen, verehrter Leser). Und zweitens verlasse ich mich hier auf mein Gefühl.
(Anmerkung des Herausgebers)