Sollte ich mich mit einem Satz beschreiben, dann würde ich sagen: Ich bin ein Bildermensch.
Kennst du die Gemälde, Zeichnungen und Drucke von Edvard Munch? Diese hohlwangigen, hungrig blickenden, großäugigen Mädchengesichter? Diese verspannten, nackten Körper? Ich bin zwar nicht ganz so schwindsüchtig, aber wenn du dir eine Reihe von Munch-Bildern ansiehst und dann mich, so wirst du nicht leugnen können, dass es Ähnlichkeiten gibt.
Mit meinem Inneren, meinem Wesen, meinem Charakter oder wie du das nennen willst, ist es nicht so einfach. Es kommt mir eher wie ein großformatiger Jackson Pollock vor: nervös, wild und durcheinander. Aber wenn du ein Vergrößerungsglas anlegtest, dann könnten einzelne Farbspritzer eine Struktur haben wie ein Kandinsky, andere wären so mild und verspielt wie ein Miró, und wieder andere ähnelten alptraumklaren Dalí-Szenen mit einem Fluchtpunkt irgendwo schräg hinten in der Unendlichkeit. Mein Inneres gleicht also einer Galerie, und je nachdem, wie du aus dem riesigen Fundus im Keller die Wechselausstellungen konzipierst, erhältst du ganz unterschiedliche Eindrücke von meinem „Charakter“ oder „Wesen“.
Ich bin also nicht in meiner Galerie gefangen (das wäre mir sehr unangenehm), ich bin die Galerie. Wenn ich die Welt um mich herum anblicke, anhöre, befühle und beschnuppere, dann spiegelt die Galerie aus meinen Augen, meinen Ohren, meiner Nase und meinen Händen heraus und legt sich formend auf alle Dinge. Ich fange die Welt mit diesem Netz meiner Sinne und gliedere sie in mein inneres Museum ein, denn nur so kann ich sie begreifen. Dadurch weite ich mich selbst aber stetig aus, bis auch alles um mich herum zu einer Galerie wird – meiner Galerie.
Wie ich schon sagte, ich bin ein Bildermensch.
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Wenn ich mich nun hinsetze und diese Seiten schreibe, so liegt das nicht daran, dass ich eine zu schlechte Malerin wäre – tatsächlich beweisen meine Erfolge eher das Gegenteil. Es ist einfach so, dass kein Bild fassen könnte, was ich erzählen muss. Auch eine Ausstellung nicht, vielleicht nicht einmal eine ganze Galerie. Denn ich will erzählen, wie ich wurde, was ich bin (eine Malerin, ein Bilderwesen), und wenn die Galerie mir doch die Welt erklärt, so erklärt sie nicht sich selbst und ihren nebligen Ursprung, ihre Geburt aus dem Dampf, der vom Rand der Welt aufsteigt. Das ist ihr großer Makel.
Ich greife also zum Stift, der auf dem Papier runde Buchstaben formt, die lange Ketten bilden, welche sich wieder in dichte Blöcke von feiner Textur formieren. Diese Sprache ist mir seltsam fremd, und wenn ich ab und zu aufsehe, aus dem Zugfenster die vorbeirasende, Streifen ziehende Landschaft betrachte, und dann den Blick wieder auf meine Buchstaben richte, dann staune ich. Welch seltsames Wesen, das diese Spinnenspur über das Blatt zog!
Draußen gibt es andere Linien, sie machen mir keine Angst. Die Linien eines kahlen Stoppelfeldes. Hinter dem hellen Strich des offenen Feldes eine Dunkelheit ohne Risse. Dort gibt es nur den Waldrand, das Ende der sichtbaren, beschreibbaren Welt.
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Auch meine Geburt als Galerie fand in einem Zug statt, gut achtzehn Jahre nach meiner Geburt als Mensch, und machte mich endlich komplett. Vielleicht gab das den Anlass, jetzt davon anzufangen. Die Wehen vor dieser zweiten Geburt spielten sich jedoch ganz woanders ab, in einem kleinen Städtchen auf dem platten Land, das klar vor meinem inneren Auge steht (als eine lange Reihe von Landschaftsporträts).
Ob ich es in Textkolonnen einreihen kann, neben Menschen, Dinge, die Kirmes, Gefühle und andere seltsame Wesen, das wird sich noch zeigen. Jedenfalls habe ich ein gutes Schlüsselloch gefunden, durch das ich spähen kann, ohne selbst sichtbar zu werden. Natürlich formt dieser Blickwinkel den Ausschnitt dessen, was ich zeigen will. Er legt die Konturen und Ränder fest, und hier und da mögen sich Menschen und Dinge, Gefühle und die Kirmes gegenseitig im Wege stehen – zu viele, um sie alle geordnet und nebeneinander aufs Bild zu bekommen.
Und ich gebe zu: Auch der Blick des Wahrsagers ist getrübt, von seinen eigenen Gefühlen mindestens, und von seiner ebenfalls eigentümlichen Art, die Welt wahrzunehmen, entlang der Silberfäden. Er ist nicht unbedingt neutral. Aber wer ist das schon.
Mit zwei großen, körperlosen Augen starre ich also in meine Vergangenheit und scheuche Erinnerungen auf, die sich wie Staub niedergelegt hatten. Ich trete ein in meine Galerie, und du sollst mir folgen.
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ERSTER RAHMEN // Die Künstlerin