Wie könnte man es ausdrücken?
Sie wurde ins Dasein geworfen.
Nein.
Sie entstand aus dem Nichts.
Auch das ist nicht richtig. Vorher war dort eine Grube, erdig feucht, mit sich ringelnden Regenwürmern und steilen Wänden, aus denen abgehackte Wurzelenden ragten. Die Grube maß im Durchmesser wohl zwei oder drei Meter, sie war kreisrund. Dann verwandelte sie sich – doch auch das ist nicht korrekt. Was geschah, muss doch irgendwie zu beschreiben sein! Etwas setzte sich in Gang, zumindest könnte man davon ausgehen, bedenkt man die perfekte Anlage, als es beendet war. Es war, als gingen die Maßstäbe verloren. Ja, so möchte ich es ausdrücken. Jemand hatte den Urmeter in unseren Köpfen gestohlen oder gestreckt, die Vorstellung für Proportionen kam uns von jetzt auf gleich abhanden. Die Entfernungen wuchsen von einem Herzschlag zum anderen ins beinahe Unermessliche. Die Wände der Grube flohen auseinander, jeder klammerte sich im Fallen an die Kanten und Vorsprünge der entstehenden Stadt.
Nun, ich sagte, es sei eine kleine Grube gewesen. Man hatte sie mühsam ausgehoben, mit Spaten und Hacken. Um etwas zu suchen, glaube ich. Ich weiß nicht, ob man es fand. Und sie wuchs zur Stadt heran. Aus Lehm und Erde wurden Beton, Glas, Stahl und Chrom. Die Wurzeln streckten sich symmetrisch zu Stahlträgern und Galerien, Stützen und Zubringerstraßen. War die Grube zuvor mannshoch gewesen, war der riesige leere Raum im Zentrum der Stadt nun ein Schlund. Es gab keinen Boden mehr, Lichter flammten in großer Tiefe auf, irgendwo verblassten auch sie und machten, Kilometer um Kilometer abwärts, einer tintigen Schwärze Platz. Kreisrund war die Stadt, Etage um Etage abwärts, Ebene um Ebene, wie die Ringe eines Baumes, dessen Mitte von Termiten zu einer hohlen Röhre gefressen worden ist. Von der einen Seite des Schlundes bis zur anderen gegenüber waren es Dutzende von Kilometern. Später sprach man von über zweihundert. Die Vermessungen könnten aber fehlerhaft sein, denn es gibt keine Brücken, keinen direkten Weg über den Schlund. Um auf die andere Seite zu gelangen, müsste man der Kreisbahn folgen, es gibt Promenaden am Rand des Schlundes entlang, in geringer Krümmung. Ich weiß nicht, ob jemals jemand eine Umrundung versuchen wird. Schon jetzt gibt es Gerüchte über die, die auf der anderen Seite des Schlundes leben. Nachts machen sie seltsame Lichtzeichen, ihre Toten überantworten sie der Tiefe. Man versucht, sie mit Fernrohren auszuspähen, doch die reichen nicht weit genug, um Genaues zu erkennen.
Nun spreche ich die ganze Zeit von einer Stadt, und das angesichts ihrer unermesslichen Größe. Ich könnte auch Land oder Staat sagen, doch diese Begriffe würden das Vorhandensein von Politik und Grenzen beinhalten. Wir wissen aber nicht, wie tief der Schlund ist, haben keine Kenntnis darüber, wo die oberste und unterste Etage sind oder wie sie beschaffen sein mögen. Wir werden nicht regiert. Noch hat niemand den Raum ermessen, den sich die Etagen ins Erdinnere erstrecken, in die Wände der Grube, um im Bild zu bleiben. Bitte machen Sie sich keine falsche Vorstellung von der Stadt. Sie werden hier vergeblich nach Häusern suchen. Die Stadt ist tatsächlich beschaffen wie ein einziges, gigantisches Haus mit hohlem Kern, es gibt Treppen und Aufgänge und Aufzüge zwischen den Etagen. Nur sprengt die Stadt den Begriff eines Hauses dermaßen, dass ich sie so nicht nennen will. Ich habe keine Ahnung, wie viele Menschen hier leben. Es könnten Millionen sein.
Zu Beginn der Besiedlung fanden wir alles perfekt vor. Geschäfte, Appartements, Straßen, Spielcasinos, Parks, Bolzplätze, Krankenhäuser. Menschenleer, aber perfekt. Das Licht brannte, in den Läden lief Musik, die Regale waren eingeräumt. Alles wartete auf uns, die Bewohner. Und wir bezogen die Wohnungen, bevölkerten die Läden, Ärzte übernahmen die Krankenhäuser und Leseratten die Bibliotheken. Die Atmosphäre veränderte sich von gespannter Erwartung zu entspannter Zufriedenheit. Niemand stellte Fragen. Schauspieler gründeten Ensembles in den verschwenderisch ausgestatteten Theatern, die Besucherzahlen waren beeindruckend. Ein jeder fand für sich und seine Vorlieben eine Nische, in der er sich betätigen konnte. Und doch. Die ganze Stadt erinnert mich, wie ich durch ihre unermesslich weiten Gänge und Straßen laufe, in den Schlund hinabblicke oder in meiner Wohnung sitze, an eine gigantische fleischfressende Pflanze, die uns verschluckt hat, unsere Furcht mit Zufriedenheit betäubt und uns nun langsam, über Jahre hinweg, verdaut. Nicht, dass man überhaupt etwas vermissen könnte, es ist alles da. Sich in der Stadt eingesperrt zu fühlen bei ihrer Größe ist absurd. Doch ich fühle mich wie ein Gefangener.
Auch die Menschen haben sich verändert mit der Zeit. Welcher Zeit? Ich kann es nicht sagen. Nachdem uns der Sinn für Proportionen geraubt worden war, was uns in die Stadt verschlug, so erweist sich auch unser Zeitgefühl als unzuverlässig. Manche Einwohner, die ich fragte, sprechen von glücklichen Jahren, die sie hier schon verbracht haben, andere von ein paar Wochen. Ich selbst komme bei anstrengendem, vernebeltem Nachdenken auf drei oder vier Tage. Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Ich weiß nur, dass es mir nicht gefällt.
Gestern (andere würden es als „letzte Woche“ bezeichnen oder als „vor zwei Jahren“) in einem der Supermärkte hatte ich ein Erlebnis, das zeigt, wie seltsam die Menschen geworden sind. Der Markt ist ein sehr sauberer Ort. Das Licht ist angenehm, ebenso die Musik, die dezent bleibt und doch erfreut. Die Gänge sind breit zwischen den kopfhohen Regalen. In einem dieser Gänge begegnete ich einem Pärchen. Sie hatten einander die Arme um die Taille gelegt. Auf meiner Höhe angelangt (ich wich in dem breiten Gang problemlos aus), löste sich das Mädchen von ihrem Partner und fasste mich bei der Hand. Nun sage ich Mädchen; sie war eine junge Frau, ich schätze sie auf zwanzig Jahre, wenn das hier noch etwas bedeutet. Hochgewachsen war sie und sehr anziehend, womit ich meine: gertenschlanker, sportlicher Körper, schulterlanges, braunes Haar, glatte Haut (spürte ich, während sie meine Hand ergriff und mich in eine enge Umarmung zog). Sie hatte ein bezauberndes Lächeln, das ich nur kurz sah, bevor ihr Gesicht dem meinen zu nah war, weil sie einen leidenschaftlichen Kuss begann. Ihre Lippen waren weich und schmeckten sehr gut, ein bisschen wie eine bestimmte Sorte von milden Minzpastillen, die ich früher oft kaufte, aber in den hiesigen Supermärkten noch nicht gefunden habe. Sie umspielte meine Zunge mit ihrer, seufzte ein bisschen und zog mich enger an sich, während ihr Freund (ich konnte ihn aus den Augenwinkeln sehen) in Ruhe verschiedene Sorten Frühstücksflocken verglich und ab und zu einen kurzen Blick in unsere Richtung warf, um sich zu vergewissern, wann wir fertig sein würden mit dem, was uns dort beschäftigte. Er tat dies höflich und ohne den Eindruck zu vermitteln, irgendwie drängen zu wollen. Währenddessen hatte das Mädchen mich mit dem Rücken an eine Säule gedrängt. Ich konnte deutlich ihren festen Körper an dem meinen spüren, an Brust, Bauch und Oberschenkeln, während sie sich mit den Händen unter mein Hemd wühlte und der Kuss unter unserem heftigen Atem immer ungestümer wurde. Dann ließ sie plötzlich von mir ab, hauchte noch einmal kurz mit den Lippen über meine Stirn und hakte sich wieder bei ihrem Freund unter, der sich für ein Paket Cornflakes entschieden hatte. Beim Weggehen winkte er mir freundschaftlich zu. Ich fühlte mich wie gerädert und spürte ein Angst, von der aus es nicht weit bis zur Panik war.
Das ist nur ein Beispiel. Im Theater proben die Schauspieler das Stück eines jungen Schriftstellers. Es scheint daraus zu bestehen, Stunde um Stunde regungslos auf der Bühne zu verharren. Oder ein altes Ehepaar. Sie kaufen beim Bäcker Brotreste, um diese in kleine Krumen zu zerbröseln und in den Schlund hinabzuwerfen, als wollten sie Tauben oder Enten füttern, die gar nicht da sind. Ich selbst ertappe mich dabei, in den langen, gekachelten Fluren eines medizinischen Forschungszentrums herumzulaufen oder stunden- (tage-, wochen-)lang den Bauarbeitern zuzusehen, die begonnen haben, eine Brücke über den Schlund zu bauen. Dabei sehen sie nicht, dass ihnen auf halber Strecke die Statik einen Strich durch die Rechnung machen wird. Ein zweites Team müsste sich von der Gegenseite annähern, doch wer weiß schon, was auf der Gegenseite für Verhältnisse herrschen, was die Wilden dort drüben tun. Das Leben fällt uns leicht. Ich weiß nicht, ob die anderen dieselbe Angst verspüren wie ich. Sie scheinen erfüllt zu sein von ihrem Leben, so wie auch ich es zu sein scheine, hoffe ich.
Mir fällt auf, dass wir immer weniger reden. Ich will damit nicht sagen, dass Worte überflüssig geworden wären wie zwischen sehr vertrauten Personen. Ich habe keine vertraute Person hier. Vielmehr ist es so, dass das umständliche Formulieren von Sprache nicht die Mühe wert zu sein scheint, wie auch mein Erlebnis mit dem Mädchen im Supermarkt zeigt. Ich hätte fragen müssen: „Was tust du da?“, damit sie meine Frage mit ihrem Kuss hätte ersticken können. Sie hätte nach einem heftigen Atemholen ein rasches, raues „Ich begehre dich!“ hervorstoßen müssen, all das hätte der Situation einen (wenn auch noch so grotesken) Sinn verliehen. Doch so, wie es geschehen ist, hätte sie mir, statt mich zu küssen, ebenso gut ein Frühlingslied vorsingen oder mich erdolchen können um danach mit ihrem geduldigen Freund wieder zu gehen. Zwar hört man überall den Klang von Stimmen, das typische Rauschen einer großen Stadt, doch sieht man die Menschen nur lächeln und schweigen.
In der letzten Zeit bin ich viele Ebenen nach oben gestiegen. Vielleicht hoffe ich, dass der Schlund wenn schon keinen Grund, so doch wenigstens oben eine Begrenzung oder ein Ende hat: einen Rand, über den man hinwegblicken könnte. Doch wie weit man sich auf den Promenaden auch mit aufwärts gewandtem Kopf über das Geländer lehnt: Es gibt keinen Himmel, lediglich eine Fortsetzung der gigantischen Innenfläche des Schlundes, wo sich Etage auf Etage türmt. Ich bin nun schon so lange unterwegs. Trotz der zahlreichen Menschen in der Stadt stehen viele Wohnungen einfach leer, noch nie belebt, mit der gleichen Erwartung in ihrer Atmosphäre, die zu Beginn der Besiedlung die ganze Stadt erfüllte. Wenn ich müde bin, gehe ich irgendwo zu Bett.
Ich habe mich damit abgefunden, die Stadt nie mehr zu verlassen. Vor einigen Stunden hatte ich Besuch von einem Mann, der zwar keine Uniform trug, aber so aussah, als wäre ihm dies ein inneres Bedürfnis. Er hatte die Haare kurz rasiert, und man sah, dass er irgendwann von einem scharfen Gegenstand verletzt worden sein musste. Vom Hinterkopf bis zum Ansatz der Nasenwurzel zog sich eine dünne, rote Narbe. Das war wahrscheinlich nicht in der Stadt passiert. So lange wir hier sind, hat es keine gewalttätigen Handlungen gegeben. Der Mann hatte eine tiefe Stimme, als er ohne anzuklopfen in meine derzeitige Schlafstätte trat (ich schätze, sie liegt etwa dreihundertfünfzig Ebenen über dem Supermarkt, in dem mich das Mädchen küsste) und mir einen guten Tag wünschte. Er starrte mich an, nickte dann (ein paar Stunden, Minuten oder Sekunden später) und notierte ein einziges Wort in einem kleinen blauen Buch. Dann war er wieder fort. Im Raum blieb der Duft von Lederfett zurück.
Ich trat ans Fenster, das auf den Schlund hinausblickte. Die Luft war sehr leer auf den angeblich zweihundert Kilometern bis zu den nahezu unsichtbaren Lichtern auf der Gegenseite, die wie Sterne wirkten, oder ein Ersatz dafür. Auf einer in den Schlund hinausragenden Plattform schräg unter mir saßen drei alte Damen in prächtigem Ornat zum Tee, mit einer gänzlich nackten jungen Frau zu Gast, die durch die Nachbarschaft der runzligen Gesichter und durch den schwachen Lichtschein, der aus der zugehörigen Wohnung hervorbrach, anbetungswürdiger und vollkommener aussah, als zu ertragen war. Sie hätte das Mädchen aus dem Supermarkt sein können: das gleiche Haar, das gleiche Lächeln, wenn sie den Kopf neigte. Ich öffnete das Fenster und lehnte mich hinaus. Schmerz überkam mich, und Angst vor dem glatzköpfigen Mann. Auch wenn er keine Uniform getragen hatte, auch wenn ich wusste, dass es so etwas wie eine Polizei in der Stadt nicht gab, die schließlich keine Verbrechen kannte in ihrem Überfluss: Ich sehnte mich so sehr nach freiem Himmel.
Als ich mich einfach fallen ließ, war die Plattform schnell verschwunden. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ich gesehen, dass die junge Frau sich die Fußnägel rot lackiert hatte. Dann beschleunigte sich mein Fall, und die einzelnen Ebenen begannen zu tanzenden Lichtringen zu verschwimmen. Ich zog einen Block aus der Tasche und begann zu schreiben.
Nun also falle ich. Ich kann nicht sagen, wie lange schon. Mein Tempo scheint nicht weiter zuzunehmen. Das Papier des Blocks knattert im Wind des Falls, einmal hätte ich beinahe den Stift verloren. Mir wird klar, dass ich die Größe der Stadt unterschätzt habe. Was denken Sie, wie lange man braucht, diese Zeilen zu schreiben? So lange falle ich schon. Außerdem sind ein paar Pausen einzurechnen, weil mir wegen des Windes und der mangelnden Beleuchtung die Augen tränten. In all der Zeit folgte Ebene auf Ebene, Millionen, gefüllt mit Milliarden von Menschen.
Ich werde meine Erzählung nun beenden. Es gibt nichts mehr zu sagen. Wenn es auf dem Grund des Schlundes einen Boden gibt, wird er zu schnell herangerast kommen, als dass ich ihn vorher bemerken würde. Gleich werde ich die Seiten des Blocks abreißen und zu einem Papiergleiter falten. Er wird in irgendeiner Ebene stranden, irgendein Mensch wird ihn finden, das Papier glattstreichen, meine Zeilen lesen und sie nicht verstehen, weil die Stadt ihn schon zu fest umklammert hält. Ich werde die Augen schließen und ein wenig schlafen, wenn das Rauschen des Windes in meinen Ohren mich lässt. Vielleicht werde ich träumen, unterwegs den Grund zu erreichen, wie durch ein Wunder unversehrt, und ihn voller Staunen als den Grund einer mannshohen, lehmigen Grube zu erkennen, die einen Durchmesser von zwei oder drei Metern hat und aus deren Wänden abgehackte Wurzelenden ragen. Vielleicht wird jemand lachen, während ich mich aufrichte, benommen vom Sturz, und wird seine Hand herabstrecken, um mir hinauszuhelfen.
Die Stadt // Skulptur (Holz, unbehandelt) in Glasflasche, 12x10x5 cm