Über der Kirmes hockte wie ein schwarzer Schemen vor dem bewölkten Himmel die Burg auf dem Hügel. Von hier aus sahen die bunt flackernden Buden und Karussells aus wie ein verzweigter Lichtersee, der in die Stadt geflutet war, in die Straßen, über die Plätze, tiefer und farbiger an einigen Stellen, seichter und blasser an anderen. Der See würde fünf Tage dort liegen, funkelnd und lärmend in der Nacht, stumpf und still am Tag, und würde dann wieder abfließen, auf Anhängern und Tiefladern auf der Ausfallstraße aus der Stadt hinaus. Müll würde am Grund zum Vorschein kommen, kilometerweise Stromkabel, vergessene Holzplanken, die als Stützen gedient hatten. Und unsichtbare Veränderungen bei denjenigen, die in dem See geschwommen waren, Leuten aus Burgdorf und Umgebung: Magenverstimmungen, Nackenzerrungen, gebrochene Herzen, neue Liebe, Feindschaften und Freundschaften, frische und aufgedeckte Geheimnisse.

Die Leben von Menschen ähneln silbrig schillernden Fäden, auch wenn nur wenige die Gabe haben, sie zu sehen. Die Fäden führen von der Geburt bis zum Todestag eines jeden Menschen. Dass kaum jemand sie sehen kann liegt daran, dass sie eingewickelt und verschlungen, wie die DNA in einer menschlichen Zelle, in den Köpfen oder Herzen verborgen liegen. Würde man also von der Burg aus die Kirmes betrachten und die Menschen und ihre Lebensfäden, dann würden sich viele von ihnen, wie ein Wollknäuel mit vielen Enden, an derselben Stelle zu einem dicken Knoten zusammenballen: in einem kleinen, schwarzen Zelt, das unscheinbar in einer Seitenstraße stand, eingeklemmt zwischen einem Stand mit sauren Fassgurken und einer Schießbude, zwischen dem Ploppen von Gummimunition und dem herben Geruch von Essig.

Die Fäden ballen sich in meinem Zelt und spinnen sich von dort aus hinaus in die Welt. Ich bin der einzige, der sie sieht.

13
ERSTER TEIL // Freitag, erster Tag der Kirmes // 2 // Der Wahrsager
Nicht angemeldet // Jetzt anmelden