Die Welt war ein wirrer Tanz. Bunte Lichter zogen Streifen vor seinen Augen, als er kopfüber und kopfunter hin und her geschleudert wurde, grelle Strobo-Lichter, die von allen Seiten zu kommen schienen und den Wirbel in zuckende Sekundenbruchteile zerstückelten. Dazu das Hämmern irgendeines Techno-Stücks, jeder Beat kam wegen des Tempos aus einer anderen Richtung. Gesichter von Menschen, die am Rand des Wirbels standen, rasten auf ihn zu und wurden wieder weggesaugt, ihre Gesichter waren wie Masken in dem ständig wechselnden Licht. Sein Hirn hatte es aufgegeben, die Bilder zu interpretieren. Alles war Rausch, unter ihm ein bodenloser Abgrund. Eine falsche Drehung, und er würde fallen.
Ana-Maria neben ihm kreischte und schrie vor Wonne und krallte sich in seinem Oberschenkel fest. Ihm selbst war hauptsächlich schlecht, und sein Nacken tat von dem Geschleuder weh. Er sandte ein Gebet zu dem starren Mann hinter der Kasse, der die Macht über Knöpfe und Hebel hatte: Ein fahles Leuchten umgab ihn, ein Regenbogen, der wie ein Smaragd aussah, und rings um seinen Thron waren Lebewesen, außen und innen voller Augen, sie ruhen nicht, bei Tag und Nacht, loben seinen Namen und rufen:1 Bitte nicht länger! Hab Mitleid, Herr! Erlöse uns!
Nachher zitterten seine Knie, doch er sagte nur „War geil!“, als Ana-Maria ihn fragte. Sie hatte sich untergehakt, und die beiden schoben sich durch eine Traube dumpf schreiender Menschen, die im Gravitationsfeld des Bierwagens gefangen waren. Dort würden sie noch stundenlang kreisen, dabei ein Pils nach dem anderen in sich hineinkippen. Über den Köpfen dieser betrunkenen Trabanten schaufelte das Riesenrad wohlig stöhnende Menschengrüppchen in den Himmel. An den Speichen rasten Lichter auf und ab.
10
„Ey, Thoms. Thoms?“ Ana-Maria zupfte an seinem Ärmel, er versuchte, auf ihr Gesicht zu fokussieren. Ein rundes, etwas pummeliges, niedliches Gesicht, in dem sie an diesem Abend sehr viel Schminke verteilt hatte.
„Was denn?“
„Gehn wir nach Hause? Mir wird kalt.“
Er nickte dankbar. Kein Bier mehr vor den Karussells! schwor er sich, wie schon im vergangenen Jahr und dem Jahr davor. Es machte seinen Magen unzuverlässig und sein Hirn zu Brei. Er konzentrierte sich darauf, geradeaus zu gehen und mit niemandem zusammenzustoßen, kollidierte trotzdem mit einem Mann, der das aber nicht zu bemerken schien. Die Bilder der abendlichen Kirmes tropften ohne Zusammenhang in seinen Kopf.
Eine Losbude. Gelbe Nashörner in allen Größen. Bunte Bälle, die man auf rotierende Nagelscheiben wirft. Eine Riesenpfanne mit bratenden Champignons. Ein Kettenkarussell, das sich in erhabener Ruhe dreht. Ein dickes Kind mit Zuckerwatte.
Zwei betrunkene Kerle in Lederhosen. Eine Gemüsetombola. Ein Rennspiel mit ruckenden Pferden. Luftballons. Heavy-Metal-T-Shirts. Zwei brennende Augen auf der schwarzen Plane meines kleinen Zeltes. Davor ein Spiegel, in dem Thoms sich selbst im Vorübergehen erblickt, groß, schlacksig, ganz gut aussehend, aber blass. Über dem Spiegel die Worte „Erkenne dein Schicksal“. Die gemalten Augen folgen ihm. In seinem Magen plötzlich wieder der Abgrund.
11
„Moment“, sagte er kurz angebunden zu Ana-Maria und verschwand zwischen den Wagen, übergab sich unter einen Rhododendron. Räuberfleisch, Bratkartoffeln, gebrannte Mandeln und drei große Pils. Wischte sich den Mund mit einem Taschentuch ab und blieb einen Moment so stehen, gebeugt, seufzend. Dumpf kämpften hinter den Wagen drei Techno-Stücke miteinander um Gehör. Er hätte hier auf der Stelle einschlafen können.
Ana-Maria stellte keine Frage, als er zurückkam. Starrte nur die gemalten Augen auf meinem Zelt an. Eins links, eins rechts vom Eingang, den ein kitschiger Perlenvorhang verschloss.
„Komm“, sagte sie. „Gehen wir nach Hause.“
12
ERSTER TEIL // Freitag, erster Tag der Kirmes // 1 // Der Wahrsager
vgl.: Offenbarung 4,3 und 4,8
(Anmerkung des Herausgebers)